Die letzten drei Tage hat es wie aus Kübeln gegossen und für heute ist auch Regen angesagt. Umso glücklicher bin ich, in den frühen Morgenstunden eines Septembertags die Herberge zu verlassen und eine regenfreie und in ihrer Stille friedliche Stimmung zu erleben. Meine Füße schmerzen noch etwas von den ersten Tagen. Drei Blasen habe ich am Abend zuvor gut abgetapt, doch gegen die Ermüdungserscheinungen kann ich nichts machen, außer weiterzulaufen.
Die ersten paar Kilometer muss ich ohne Kaffee auskommen, der wartet in der nächsten Ortschaft auf mich. Bis dahin trotte ich im Halbschlaf vor mich hin. Dafür habe ich vor dem Frühstück schon eine Teilstrecke geschafft. Ich habe mich morgens dazu entschieden, alleine weiterzulaufen, und so gehe ich nur in Begleitung einer Dorfkatze durch die Dunkelheit bis zum Ende der Ortschaft. Meine Begleitung und die wenigen Straßenlaternen lasse ich hinter mir. Vor mir liegt ein düsterer Wald. Alles um mich herum befindet sich noch im Tiefschlaf. Selbst die Vögel haben ihren morgendlichen Gesang noch nicht angestimmt.
Warum mache ich das eigentlich?
Das ist der einzige Gedanke, der mir immer wieder durch meinen verschlafenen Kopf schwirrt. So friedlich es ist, alleine durch den nächtlichen Wald zu laufen, so gespenstisch ist es auch. Ich blicke etwas nervös auf meine Uhr. „Wann geht endlich die Sonne auf?“ Zu dieser Jahreszeit muss man sich bis etwa Viertel nach 7 gedulden.
Ich gehe auf dem Weg weiter, der jetzt kerzengerade an einer Landstraße entlangführt und den Blick bis zum Horizont freigibt. Kurze Zeit später ist es dann soweit. Die Sonne stemmt sich mit aller Macht gegen die Dunkelheit.

Wenn die Sonne aufgeht, ist man auf dem Jakobsweg oft noch alleine unterwegs.
Nun erwacht und glänzt die Natur endlich um mich herum. Kein Regen in Sicht! Die ersten Sonnenstrahlen wärmen mich sofort. Es sind diese Naturerlebnisse, die den Jakobsweg so besonders machen und mich für alle Strapazen entschädigen. Ich blicke gerade aus. Die nächste Ortschaft heißt Carrión. Sprechen Sie das mal englisch aus…

Die nächste Rast ist fast erreicht: Carrion de los condes
Immer wieder werde ich von Freunden und Bekannten über meine Erlebnisse auf dem Jakobsweg ausgefragt. Viele finden die Idee gut, sich selbst mal auf den Weg zu machen. Allerdings sind sie ob unsicher, ob die Wanderung ihre Erwartungen erfüllen kann und ob sie richtig einschätzen, was da auf sie zukommt. Geht es Ihnen genauso? Um Ihnen die Entscheidung zu erleichtern, habe ich hier 10 Gründe für und 10 Gründe gegen eine Wanderung auf dem Jakobsweg aufgelistet.
10 Gründe, für eine Wanderung auf dem Jakobsweg
1. Sie können den besten Wein der Welt für ein Taschengeld genießen – denn ein großer Teil des Camino Francés führt durch das Weinbaugebiet Rioja.

2. Abenteuer interessieren Sie mehr als All-inclusive-Hotels.
3. Sie wollen am eigenen Leib erfahren, dass weniger Besitz befreiend sein kann. Alles was Sie für den Jakobsweg brauchen, können Sie auf Ihrem Rücken tragen. Gelebter Minimalismus!

Da muss alles reinpassen, was für die Wanderung auf dem Jakobsweg nötig ist.
4. Sie wollen entschleunigen. Auf dem Pilgerweg kommen Sie Ihrem Ziel langsam näher. Jeden Tag, Schritt für Schritt.
5. Sie wollen ihren Kopf frei bekommen, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Dafür empfehle ich, alleine zu laufen. Nur so kann sich die meditative Wirkung einer täglichen Wanderung entfalten.

Manchmal ist man tatsächlich alleine auf dem Jakobsweg unterwegs.
6. Sie haben nichts dagegen, viele Menschen unterschiedlicher Kulturen kennenzulernen. Der Jakobsweg ist mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt. So trifft man Menschen aus allen Teilen der Erde. Die Wanderer kommen aus Asien, Australien, Amerika und Europa.
7. Sie wollen ein paar Kilo abnehmen und sind im Urlaub gerne aktiv. – Für manche auch ein angenehmer Nebeneffekt.
8. Ihr Ziel ist, die ursprüngliche Natur kennenzulernen und die schönsten Sonnenaufgänge erleben. Sie wandern durch verschiedene Regionen Spaniens. Wenn Sie den Nordweg an der Küste entlanggehen, können Sie sogar am Strand wandern.

Teile des Jakobswegs führen am Meer entlang, die gequälten Füße freuen sich auf die Erfrischung.
9. Sie sind offen für besondere Begegnungen und Erfahrungen. Dann machen Sie sich einfach auf die Reise und entdecken Sie.

Solche Worte liest man gerne auf einer beschwerlichen Wanderung.
10. Sie trauen sich nicht, alleine in Urlaub zu fahren, wollen das aber gerne ausprobieren. Das Wort „alleine“ ist auf dem Jakobsweg relativ. Sie sollten beachten, dass Sie eigentlich fast nie alleine sind. Sie müssen das schon ausdrücklich sagen, wenn Sie alleine gehen möchten.
10 Gründe, gegen eine Wanderung auf dem Jakobsweg
1. Sie haben Angst vor Bettwanzen. Es ist wie Russisches Roulette. In den Mehr-Bett-Zimmern kann es einen erwischen oder man hat halt Glück.
2. Sie können in Mehr-Bett-Zimmern nicht schlafen. Für mich gehören Ohropax zu den wichtigsten Utensilien.
3. Sie wollen einen typischen Strand-Urlaub verbringen. Der Nordweg geht zwar an der Küste entlang und dort können Sie auch im Meer baden. Außerdem kann man nach Santiago de Compostela noch bis ans Meer laufen. Aber ein typischer Strand-Urlaub ist eine 850 Kilometer Wanderung natürlich nicht.
4. Sie geben bei der ersten Blase an den Füßen auf. Es gibt viele Menschen, die einem auf dem Weg helfen. Blasen lassen sich gut behandeln. Sie werden sehen, wie schnell Sie den Ekel vor anderen Füßen und Blessuren verlieren. Abends zeigt man dann schon etwas stolz seine Blasen wie eine alte Kriegsverletzung.

Diese beiden Helfer sollten in jedem Wanderrucksack dabei sein.
5. Sie möchten abends ihre Ruhe haben und lehnen es ab, in geselliger Runde mit Fremden zu essen. Für mich mit die schönsten Momente des Camino Francés, aber natürlich kann man sich auch zurückziehen.

Auch wenn es auf den ersten Blick anders aussieht, in dieser Herberge gibt es keinen freien Platz mehr.
6. Der Gedanke, nur zwei Unterhosen mit auf Reisen zu nehmen, bereitet Ihnen Übelkeit. Minimalismus ist angesagt. Eine Unterhose tragen Sie und eine hängt draußen am Rucksack zum Trocknen.
7. Sie wollen alles „schön sauber“ haben. Sie gehören zu den Urlaubern, die immer wieder zum gleichen Hotel fahren, weil es da so schön sauber ist? Dann ist der Jakobsweg eher nichts für Sie.
8. Das Wort Freiheit macht Sie nervös. Den Jakobsweg im Voraus zu planen, ist unmöglich. Den Pilgern gefällt diese Freiheit, manche macht das allerdings nervös.
9. Sie brauchen einen großen Rollkoffer auf der Reise. Ich gebe zu, es ist ein schönes Bild. Ein Pilger im Hawaii-Hemd und mit Rollkoffer. Das ist aber „leider“ nicht praktikabel. Der Rucksack ist das Mittel der Wahl. So klein und leicht wie möglich.

Mit einem Rollkoffer kommen die Wanderer auf dem Jakobsweg nicht weit.
10. Die letzten hundert Kilometer gleichen eher einer Völkerwanderung. Sie brauchen die Stempel der letzten 100 Kilometer für die Compostela – eine Urkunde, die Sie nach der Wanderung auf dem Jakobsweg erhalten. Daher laufen viele nur die letzten 100 Kilometer. Auch Schulklassen. Ganze Reisegruppen.

Überall auf dem Jakobsweg stehen aufmunternde Worte. Sie helfen durchzuhalten.
Jetzt liegt es an Ihnen! Sind Sie neugierig geworden? Haben Sie Fragen? Gerne beantworte ich Ihnen diese unten in den Kommentaren.
Bildquellen
- Sonnenaufgang am Jakobsweg: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Carrion de los condes: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Geselliger Weingenuss: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Abgestellter Rucksack: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Einsamer Wanderer: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Erfrischender Zwischenstopp: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Pilger mit Statement: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Unversichtbare Helfer: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Volle Herberge – leere Terrasse: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Der Rucksack ist das Mittel der Wahl: © mischa wagner/www.sofayoga.de
- Aufmunternde Worte an einer Mauer: © Mischa Wagner | www.sofayoga.de
Inge
4 April
Hallo Mischa, habe Deinen Beitrag verfolgt. Welche Jahreszeit hattest Du gewählt ?
Deine 10 Tips fürs „für und wieder „sind sehr nützlich für mich. Werde doch erst mal die 100 Km machen, obwohl die Stille mich mehr reizen würde, nicht aber
die Dunkelheit im Wald oder am Waldrand. Die 100 Km könnte ich vermutlich in 4 Tagen abklappern,
werde 5 Tage einplanen,falls ich einen Tag an einem
schönen Ort verweilen möchte, oder danach. Liebe Grüsse
Angelika Waltersbacher
26 Juni
Hallo Mischa,
wirklich sehr unterhaltsam und treffend dein Beitrag!
Ich habe auch schon mal eine Teil des Weges gemacht, und dort einen super Tipp bekommen: die blasengefährdeten Stellen an den Füssen schon von Anfang an mit Fixiervlies, (vollflächig, Textil) z.B. von Hartmann tapen, somit hat die Blase gar keine Chance zu entstehen.
Die Füsse sehen dann lustig aus und blasenfreie Füsse sind garantiert, ich mach das seither bei jeder Wanderung!
Mischa Wagner
27 Juni
Hallo Angelika!
Freut mich sehr, dass Dir der Artikel gefallen hat. Der Tipp von Dir ist auch viel wert, danke dafür! Ich habe oft Hirschtalg benutzt. Morgens vor dem Loslaufen auf die Füße und es kann eigentlich nichts mehr schief gehen.
LG
Mischa
Marietta
14 März
@Micha: ich hab mich gerade gekringelt vor lachen – so genial und lebendig geschrieben 🙂
Mischa
14 März
Liebe Marietta!
Das freut mich sehr! Ich hoffe aber natürlich, dass du auch inhaltlich etwas aus dem Reisebericht mitnehmen konntest und du irgendwann die Gelegenheit wahr nimmst den wunderbaren Weg zu gehen. Es können dabei unter anderem auch fantastische neue Ideen entstehen. Es lohnt sich also immer!
VG Mischa